Europäische Perspektiven bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts

Europa, auch wir europäische Bürger/innen, haben viele Jahre recht teilnahmslos zugesehen, wie Hegemonialkriege um Einflusszonen im Irak, im Jemen oder in Libyen geführt wurden. Jetzt haben wir so einen Krieg vor der Haustür und spüren, dass es nicht nur um Fern-Seh-Nachrichten geht. Und dass wir nicht wissen, was kommt und was wir tun sollen.

Wir haben viele Jahre zugesehen, wie das Vertrauen und die Erwartungen in Demokratie, in die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde erodiert sind, sei es an den EU-Außengrenzen, sei es in Abu Ghraib, sei es in den gesellschaftlichen Debatten mit populistischen Gruppierungen, beim Umgang mit Arbeitnehmerrechten in Fleischfabriken und anderen Betrieben mit prekären Beschäftigungsverhältnissen, sei es beim Zusehen, wie mit alten Menschen in Heimen umgegangen wird oder mit der schwindenden Hoffnung auf bezahlbares Wohnen. Alles wurde in Sonntagsreden beklagt, aber die Gewinne beim Weitermachen waren wichtiger. Das Licht der westlichen Werte erlosch .

Jetzt zeigt uns Putin seine Interpretation der den Chre zugeschriebenen Einsicht „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann“: Erst wenn ich euch zeige, dass ich bereit bin, meinem Land für meine imperiale Ziele mehr als Armut zuzumuten, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.

Putin hat das „Ende der Geschichte“, die Nach-Nachkriegsordnung, gestern beendet. Was erwartet uns? Meine Thesen:

• Kurzfristig werden wir seinen Aggressionen wenig entgegenzusetzen haben. Dass man Geld nicht essen kann, weiß Putin besser als wir, seine Bevölkerung isst kein Geld. Sanktionen hat er eingepreist. Vorübergehend bleibt der Politik im Westen wohl nur der entschiedene Protest und die demonstrativ erklärte Solidarität mit denen, mit denen Putin gerade Schlitten fährt. Das sind eher innenpolitische Botschaften. Putin wird darüber lachen. Er demonstriert seine Unerreichbarkeit bildlich durch den absurd langen Tisch, an dem er Emmanuel Makron und Olaf Scholz empfangen hat.

• Dass Putin nach der Ukraine die baltischen Staaten militärisch angreift, ist extrem unwahrscheinlich. Bisher handelt er im Rahmen seiner zivilisationsverachtenden Ziele hochgradig rational. Falls er gegen die baltischen Staaten oder andere postsowjetische NATO-Mitglieder vorgehen sollte, wird das Drehbuch so aussehen: Destabilisierung, Regimewechsel, NATO-Austritt, Hilferuf an Moskau.

• Sofern er nicht aus irgendwelchen Gründen, die wir nicht kennen, altersmilde wird, werden seine Aggressionen andauern. Er weiß, dass er dauerhaft außenpolitisches Porzellan in Europa zerschlagen hat. Das sieht er als Freibrief. Mittelfristig wird das mehr Aufrüstung im Westen nach sich ziehen, egal wie überlegen die NATO Russland bereits jetzt sein mag. Und das kostet Geld, das woanders fehlt. Die Rechnung muss bezahlt werden.

• Auf Dauer werden Divisionen nicht reichen. Wenn man die Destabilisierung von Regierungen verhindern will, muss man dafür sorgen, dass sie stabil sind. Die Option „Unterdrückung nach innen“ ist bestenfalls eine auf Zeit. Erdogan oder Orban sind kein nachhaltiges Modell. Unterdrückung bietet immer Ansatzpunkte für Einfluss von außen. Das war ja auch die imperiale Strategie der USA mit „freedom and democracy“. Gesellschaftsordnungen werden stabil und entfalten Einfluss nach außen, wenn sie nachahmenswert sind, oder wenigstens so erscheinen. Das kann in Europa nur gelingen, wenn man „das Licht, das erlosch“, wieder entzündet, wenn Demokratie, Freiheit und Menschenrechte wieder glaubhaft vertreten werden können.

• Die Pandemie wird uns vielleicht noch 1 bis 2 Jahre beschäftigen. Putins neue Welt vermutlich 10 bis 20 Jahre. Nach seinem Tod ist es ziemlich sicher vorbei. Schließlich wollen auch die Russen in der Holzhütte irgendwann wieder aufs Wasser-Klosett, gute Filme sehen, bessere Handys haben, RT-freie Nachrichten hören und auch sonst mitbestimmen darüber, wie sie leben wollen. Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Attraktivität, nicht nur um das „Kaufhaus des Westens“. Darum ist es langfristig wichtig, die vielbemühten „westlichen Werte“ zu erneuern. Glaubhaft. Was nicht nur wegen Putin wünschenswert ist.

• Europa hat also den Kampf gegen Putins imperiale Ziele und gegen den Klimawandel zugleich zu führen. Auch das spricht dafür, Politik neu zu denken. Und Public Health auch, das nur als Nebenbemerkung für meine Profession.

• Am Schluss etwas Positives: Populisten wie die AfD haben womöglich ausgespielt. Sie können sich nicht mehr von Putin unterstützen lassen, ohne als vaterlandslose Gesellen dazustehen, sie können nicht mehr gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sein, die Putin verursacht, sie können nicht wie Trump irrlichternd Putin zur Seite springen, das kann nur Trump alleine. Was bleibt ihnen? Nichts. Das macht „mehr Demokratie wagen“ leichter.

Also: 10-20 Jahre dürfte es mit jeder „Friedensdividende“ vorbei sein. Wir werden mehr Geld für das Militär ausgeben müssen, aber hoffentlich auch die „westlichen Werte“ wieder mit mehr Leben erfüllen und den Klimawandel nicht aus den Augen verlieren. Andernfalls sind die europäischen Perspektiven düster.

Joseph Kuhn ist Gesundheitswissenschaftler und beschäftigt sich beruflich mit bevölkerungsbezogenen Gesundheitsstatistiken. Was man aus Daten heraus- oder hineinlesen kann, erstaunt ihn immer wieder, eigene Irrtümer eingeschlossen. Er schreibt hier über das Thema Gesundheit und darüber, was ihm sonst noch so querkommt.

(mfe)

Source: Europäische Perspektiven bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts

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