Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mich als junger Assistenzarzt schon überschätzt habe. Halbwissen verführt zum Klugscheissen. Der einzige Trost dabei ist, daß ich nicht alleine bin. Es geht uns allen so. Pünktlich zu jeder Weltmeisterschaft verwandelt sich Deutschland in ein Land der Fußballfachleute: Kaum einer, der nicht eine felsenfeste Meinung hat, warum dieser oder jener Spieler eine gute oder schlechte Wahl, diese oder jene Taktik die einzig richtige ist.
Weniger amüsiert verfolge ich dasselbe Phänomen zum Beispiel in der gegenwärtigen Pandemie: Die Zahl der „Experten“ in Virologie und Epidemiologie ist explodiert. Und jeder von ihnen hat eine Meinung, die er voll Überzeugung und teils sehr emotional vertritt.
Nur steht hinter dieser Meinung oft nur ein „gefühltes“ Wissen, das auf einigen wenigen Informationen oder auch nur der eigenen Wahrnehmung beruht – ohne Rücksicht auf objektive Belege oder Fakten. Der Fachbegriff im angloamerikanischen Sprachgebrauch für diesen Trend lautet „Truthiness“. Diese gesellschaftliche Tendenz halte ich für nicht ungefährlich und ich habe sie mir etwas genauer angesehen.

Meinung ist gut

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Eine Meinung zu den Dingen zu haben und sie klug zu vertreten, ist ein hohes Gut in einer freiheitlichen Gesellschaft. Das gilt auch für Ansichten, die nicht dem Mainstream entsprechen und möglicherweise unbequem sind. Ich bin nur immer wieder beeindruckt, wie schnell heute eine subjektive Expertise entsteht – und mit welcher Vehemenz diese auch gegen gute Argumente verteidigt wird.
Sicher ist, dass das Internet Meinungsbildung enorm beflügelt hat: Hier kommen wir so leicht und schnell an Informationen wie nie zuvor. Diese Informationen sind darüber hinaus emotional oftmals so geschickt aufbereitet, dass sie unsere Instinkte stärker ansprechen als unseren Verstand. Ein Beispiel: Rührende Einzelschicksale von Impfkomplikationen nehmen in den sozialen Medien viel Raum ein und tragen damit deutlich mehr zur Meinungsbildung bei als die Millionen von Menschen, die in den letzten Jahrzehnten durch Impfungen weltweit gerettet wurden.
Schuld ist das Internet an dem Phänomen jedoch nicht, es verstärkt dieses allenfalls. Die eigentlichen Gründe sind andere. Zwei davon halte ich für ganz wesentlich.

1) Selbstüberschätzung:

Der menschliche Geist ist ein echt toller Typ. Denn dank unseres Geistes können wir prinzipiell kritisch denken, logisch schlussfolgern, rechnen, planen und uns in andere hineinfühlen. Aber eines konnten wir nie und können es nach wie vor nicht gut: Uns selbst einschätzen!
Ganz egal, ob es um unsere positiven Charaktereigenschaften, unsere Intelligenz und auch unsere sexuelle Ausstrahlungskraft geht: Wir liegen selten richtig.
Ob wir uns dabei über- oder unterschätzen, hängt erheblich von unserer Persönlichkeit ab. Zwei Studien aus Australien und Polen zeigten unlängst, dass insbesondere narzisstische und – Achtung – ärgerlich-wütende Menschen ihre Intelligenz vergleichsweise stärker überschätzten. Bei ängstlichen oder introvertierten Menschen war es dagegen umgekehrt: Meist waren sie klüger, als sie dachten.
Diese Studien helfen uns, zumindest ein bisschen besser zu verstehen, warum gerade diejenigen Menschen sich oft überschätzen, die besonders aggressiv und selbstsicher auftreten.
Doch diese Selbstüberschätzung alleine macht den Trend noch nicht aus. Es tritt ein gesellschaftliche Entwicklung hinzu.

2) Statusdenken:

Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Werbespruch „mein Haus, mein Auto, meine Yacht“. Gemeint waren die klassischen Statussymbole. Diese sind heute übrigens eher unbeliebt, wie drei Experimente einer Arbeitsgruppe aus Michigan im Jahr 2019 zeigten.
Doch auch heute jagen wir Statussymbolen hinterher. Es sind nur andere. Die von heute heißen: „mein Wissen, mein Können, mein Lifestyle“. Ein befreundeter Soziologe sagte mir auf einem gemeinsamen Symposium: „Diese nervige und rechthaberische Auskennerei ist heute die neue Rolex…“ Ich fand die Aussage sehr treffend.
Ich habe mich selbst schon dabei ertappt, dass ich Nachrichten aus einschlägigen Journalen zitiert habe, um für Aufsehen bei unseren Freunden am Stammtisch oder auf der Grillparty zu sorgen. Wir sind alle nicht gefeit dagegen, gut dastehen zu wollen.
Aber was im Rahmen eines Freundeskreises vielleicht noch okay ist, kann auf einer größeren Bühne schnell gefährlich werden: wenn es nämlich nur noch um das Recht-Behalten einer einmal gefassten Meinung geht statt um die Sache. Wir verteidigen unser Halbwissen und gefühlte Wahrheiten bis aufs Messer. Denn die Jagd nach Status ist ein Grundbedürfnis und berührt eben heute auch unsere Meinungsbildung.
Die Nahrungskette lautet: Status frisst Sachlichkeit.

Die Lösung sind kritische Fragen an sich selbst

Um von unserem eingebildeten Expertenross herunterzukommen, brauchen wir manchmal im Leben eine Kalibrierung. Dann wissen wir wieder, wo wir tatsächlich stehen. Und können vernünftige Diskussionen führen und nach guten Lösungen suchen.
In Kommunikationstrainings verwende ich dafür gerne die „Fragen an sich selbst“. Vielleicht können diese auch Ihnen helfen, künftig dem Truthiness-Impuls nicht ins Messer zu laufen. Drei von Ihnen möchte ich Ihnen kurz vorstellen:
1) Weiß ich wirklich so viel wie ich behaupte? Wirkliche Expertise braucht Zeit und Anstrengung. Vielleicht überschätze ich mein Wissen und sollte dann erst noch weitere Informationen und Argumente einholen.
2) Könnte ich mich irren, trotzdem ich so überzeugt von meiner Meinung bin? Welche Perspektiven übersehe ich möglicherweise in meinem Tunnelblick? Selbstreflexion ist wichtig für jeden Diskussionsprozess. Alles andere ist Selbstüberschätzung.
3) Bin ich geistig flexibel genug, meine Meinung ggf. zu ändern? Kann ich damit umgehen, wenn mir jemand mit guten Argumenten widerspricht? Oder neige ich dazu reflexartig mein Gegenüber als Person zu entwerten, weil ich Angst habe Status zu verlieren, wenn ich einen Fehler zugebe? Geht es mir in einer Diskussion um meinen Selbsterhalt und weniger um die Sache, sollte ich das Streitgespräch beenden.
Durch Fragen an sich selbst kommen wir störenden Impulsen zuvor. Dadurch gelangen wir zu einer guten Gesprächs- und Diskussionskultur, die frei ist von Selbstüberschätzung und Statusdenken. Wir schaffen es auf diese Weise kompromissbereit zu bleiben und lernen Irrtümer einzugestehen, ohne Sorge zu haben, dass es gleich peinlich wird.
Ich bin davon überzeugt, dass wir auf diese Weise gemeinsam viel bessere Lösungen finden. Davon haben wir alle mehr als von gefühltem Wissen, das wir dickköpfig und lautstark vertreten und keinen Millimeter mehr davon abrücken aus Angst Status zu verlieren.

Quelle: Meinung ohne Wissen und wie Sie sich davor schützen | Dr. Volker Busch (drvolkerbusch.de)

Meinung ohne Wissen und wie Sie sich davor schützen – Buschtrommel – Volker Busch

Starke Meinung trübt eigenes Wissen

Klimakrise, Impfstoffe, Gentechnik – oft gibt es in der Bevölkerung sehr unterschiedliche Meinungen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, auch wenn diese eindeutig und gut belegt sind. Ein britisches Forschungsteam ging der Frage nach, warum das so ist, und stellte fest: Menschen mit stark ausgeprägter Meinung neigen dazu, das eigene Wissen zu überschätzen.

metamorworks – stock.adobe.com

Die Forscherinnen und Forscher wollten herausfinden, ob Menschen, die glauben, Wissenschaft zu verstehen, dies auch tatsächlich tun. Für die Studie, die nun im Fachjournal „PLOS Biology“ veröffentlicht wurde, befragten sie über 2.000 Erwachsene zum Thema Gentechnik: Einerseits wurden die Personen zu ihrer Einstellung dazu befragt, andererseits zu ihrem fachlichen Wissen.
Siehe auch unter Dunning-Kruger-Effekt:
So sollten sie etwa angeben, wie sehr sie einer Aussage zustimmen, beispielsweise dem Satz: „Viele Behauptungen über die Vorteile der modernen Genwissenschaft sind stark übertrieben.“ Außerdem wurden Fragen gestellt, die darauf abzielten, wieviel Wissen zur Gentechnik die Person sich selbst zuschreibt, etwa: „Wenn Sie den Begriff DNA hören, wie bewerten Sie Ihr Verständnis davon, was der Begriff bedeutet?“

Fragen zu Gentechnik und Tomaten

Zu gestellten Richtig/Falsch-Fragen gehörte: „Durch den Verzehr einer gentechnisch veränderten Frucht könnten auch die Gene einer Person verändert werden“, „Alle Radioaktivität ist von Menschen gemacht“ und „Tomaten enthalten von Natur aus keine Gene, Gene sind nur in gentechnisch veränderten Tomaten zu finden“. Die Studie zeigte, dass Menschen mit besonders stark ausgeprägten Meinungen – sowohl wissenschaftsfeindlich als auch unterstützend – ein sehr hohes Selbstvertrauen in das eigene Verständnis der Materie haben. Stehen Menschen wissenschaftlichen Erkenntnissen neutral gegenüber, sind sie in Bezug auf das eigene Wissen hingegen weniger selbstbewusst, so das Forschungsteam um die Neurowissenschaftlerin Cristina Fonseca von der britischen Genetics Society und Laurence Hurst, Professor für Evolutionäre Genetik an der Universität Bath.

„Tendenziell zu selbstsicher“

„Wir stellten fest, dass starke Einstellungen, sowohl für als auch gegen die Wissenschaft, durch ein starkes Selbstvertrauen in das Wissen über die Wissenschaft untermauert werden“, so Mitautor Hurst. Psychologisch ergebe das Sinn: Um eine starke Meinung zu haben, müsse man fest an sein Wissen über die grundlegenden Fakten glauben. Tatsächlich vorhanden ist dieses Basiswissen aber nicht zwingend: Wie die Analyse bestätigt, verfügen gerade jene, die sich am negativsten zu einem Forschungsbereich äußern, tendenziell über wenig Wissen zum Thema. Besonders Menschen mit einer wissenschaftsfeindlichen Einstellung neigen demnach dazu, ihr Wissen größer einzuschätzen als es ist. Sie seien „tendenziell zu selbstsicher in Bezug auf das eigene Verständnis“, so Mitautorin Fonseca. Laut Studie ist es zumindest bei den gentechnisch veränderten Organismen nur eine sehr kleine Gruppe von etwa fünf Prozent, die extrem ablehnend eingestellt ist. Grundsätzlich verallgemeinern ließen sich die Ergebnisse nicht, so das Forschungsteam. Bei der Evolution zum Beispiel spielten religiöse Einstellungen eine große Rolle, bei der Klimakrise politische Positionen. Wie stark das subjektive Verständnis Anteil habe, sei bei solchen Themen noch zu klären.

Wissenschaftskommunikation neu denken

Die Ergebnisse der Studie könnten dazu beitragen, die Wissenschaftskommunikation zu verbessern. Einer verbreiteten Ansicht nach besteht diese nämlich in erster Linie aus der Weitergabe von Informationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an die Öffentlichkeit. Laut dem britischen Forschungsteam kann dieser Ansatz aber in einigen Fällen nach hinten losgehen. Vielmehr sei es notwendig, sich bei der Vermittlung von Wissenschaft auf die Abweichungen zwischen dem, was die Menschen wissen, und dem, was sie zu wissen glauben, zu konzentrieren. Wolle man negative Einstellungen gegenüber der Wissenschaft abbauen, müsse man das, was Menschen über Wissenschaft zu wissen glauben, zerlegen und durch ein präziseres Verständnis ersetzen, so Anne Ferguson-Smith, Präsidentin der Genetics Society und Koautorin der Studie. Das sei womöglich die bessere Strategie für die Wissenschaftskommunikation, aber auch „eine ziemliche Herausforderung“.
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Über unterschiedliche Meinungen zu diskutieren, kann ziemlich anstrengend sein. Vor allem auf Familienfeiern wird ein Meinungsaustausch schnell mal zu einem emotionalen Streit. Wir wollten wissen: Warum reagieren wir so empfindlich auf andere Meinungen? Haben wir verlernt, damit umzugehen?
In diesem Video schauen wir uns an, wie wir unsere Meinung bilden und was bei uns im Gehirn passiert, wenn wir ungeliebte Meinungen hören. Warum es trotzdem wichtig sein kann, andere Meinungen zu hören – darüber haben wir u.a. mit der Psychologin Pia Lamberty gesprochen. Sie erklärt aber auch, wann Schluss sein sollte.
Bei der Recherche sind wir öfter auf Punkte gestoßen, die in Streitsituationen helfen können, sich und sein Gegenüber besser zu verstehen. Wir haben sie in einer Liste zusammengefasst — druckt sie aus oder schickt sie Familie und Freunden: https://drive.google.com/file/d/1ESfx… //
Unsere Kapitel:
00:00 – Können wir eigentlich noch vernünftig diskutieren?
00:48 – Wie sehr kann ich meiner eigenen Meinung vertrauen?
04:08 – Warum streite ich mit meinen Freunden tendenziell weniger?
06:02 – Was passiert mit mir, wenn ich ungeliebte Meinungen höre?
09:13 – Was bringt es, unterschiedliche Meinungen anzuhören?
12:25 – Wann ist beim Streit die Grenze überschritten?
Autorinnen:
Lena Puttfarcken, Alexandra Hostert Kamera & Schnitt: Lukas Anhalt Grafik: Arne Kulf Redaktion: Katrin Krieft, Lara Schwenner
. (mfe) Source: Starke Meinung trübt eigenes Wissen https://www.youtube.com/watch?v=Mh0hktIK2FU https://www.youtube.com/watch?v=W-T1J6c4dV0
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